Leonie Herwartz-Emden – ‚Mutterschaft‘ im interkulturellen Vergleich

Die Idee von Mutterschaft ist ein sehr stabiles kulturelles Deutungsmuster und wurde in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen immer wieder naturalisiert und funktionalisiert. Mutterschaft und Mütterlichkeit wurden in der christlich-abendländischen Kultur zum zentralen Element von Weiblichkeit und zur innersten Wesenserfüllung der Frau erklärt. Tatsächlich ist die Mutter als weibliche Person und kulturelle Gestalt empirisch jedoch weitgehend unerforscht. Nach einem gesellschaftlichen Konstrukt wie Mutterschaft empirisch zu fragen, legt einen Vergleich nahe. Der Beitrag berichtet am Beispiel einer Pionierstudie über die Erforschung von Mutterschaft im interkulturellen Vergleich mit verschiedenen Gruppen von zugewanderten und einheimischen Frauen. Die internationale feministische Forschung machte seit den 1990er Jahren verstärkt darauf aufmerksam, dass die Geschlechtszugehörigkeit ein Faktor ist, der Migrationsprozesse und -erfahrungen entscheidend mitprägt (Herwartz-Emden 1995). Mutterschaft gerät durch die Migration der Frau in Konfrontation mit den einheimischen kulturellen Mustern. Insofern lässt sich an den vorgestellten Ergebnissen der beschriebenen Studie der Konstruktionscharakter von Mutterschaft besonders gut veranschaulichen, denn im Vergleich präzisiert sich die gesellschaftliche und historische Dimension der Mutterschaft. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie steckte die kritische Reflexion zu dem Thema Migration der Frau (erste empirische Studien bspw. von Mirjana Morokvasic 1978 und 1984) in den deutschsprachigen feministischen Diskursen noch in den Anfängen. Vorurteile und Stereotype dominierten vielfach die Sichtweise auf die Migrantin (Herwartz-Emden 1991) – die berichteten Ergebnisse demgegenüber stellen außerdem diesen verengten Blick auf Frauen aus anderen kulturellen Zusammenhängen in Frage.